Mein Blick zurück
Es gibt Momente, in denen etwas längst Vergangenes plötzlich wieder da ist – leise, vertraut und unerwartet.
So war es bei mir, als die alte Angst wieder auftauchte. Diese spezielle Angst, die ich vor vielen Jahren schon kannte, glaubte bewältigt und hoffentlich für immer hinter mir zu haben – und die nun, ohne Vorwarnung, wieder neben mir saß.
In den letzten Tagen habe ich viel darüber nachgedacht. Ich habe viele Menschen im Forum gelesen, die von genau diesen Ängsten erzählen, deren Geschichten mich berührt haben und die mich an meine eigene erinnern. Ich habe so viele von Euch bei den Seminaren kennen gelernt. Und ich habe gemerkt: Jetzt ist die Zeit, meine Geschichte zu erzählen. Nicht, weil ich alle Antworten habe – sondern weil mein Weg und meine Erfahrungen Dir vielleicht helfen. Und Du siehst – Du bist nicht allein!
Die ersten Wochen nach der Diagnose
Ich erinnere mich noch gut an die ersten Wochen nach meiner Netzhautdiagnose.
Alles war plötzlich anders: mein Blick auf die Welt, mein Vertrauen in meinen Körper, mein Gefühl von Sicherheit.
Ich fühlte mich wie in einem Nebel aus Angst und Fragen.
Was, wenn ich mein Augenlicht verliere?
Was, wenn es niemand wirklich versteht?
Was, wenn ich es nicht schaffe, mit dieser Unsicherheit zu leben?
Wie soll es in meinem Leben weitergehen?
Wie kann ich lernen, mit dieser Krankheit umzugehen?
Wann kommt die nächste Netzhautablösung?
Die Angst saß nicht nur in meinem Kopf – sie war in meinem Körper, in jedem Herzschlag, in jeder Bewegung. Ich fühlte mich ausgeliefert und unendlich allein.
Ich war Anfang 20 – viel zu jung, um mich mit so existenziellen Fragen auseinanderzusetzen.
Ich wollte mein Leben zurück. Mein Vertrauen. Meine Leichtigkeit.
Und so versuchte ich, die Angst zu verdrängen, da ich mit ihr nicht umgehen konnte.
Ich funktionierte, ich machte weiter, ich sprach kaum darüber.
Aber sie war da – leise, wach, und tief in mir verankert.
Verdrängung als Überlebensstrategie
Nach mehreren Netzhautablösungen bekam ich eine Depression.
Es ging mir psychisch und körperlich sehr schlecht.
Ich fühlte mich innerlich leer und gleichzeitig voller Angst. Mein Körper war erschöpft, meine Seele müde. Ich hatte das Gefühl, als würde mir der Boden unter den Füßen fehlen.
Ich begann eine Therapie, nahm Antidepressiva, ich führte viele Gespräche mit Therapeuten.
Doch tief in mir klammerte ich mich weiter an den Gedanken, dass mein Leben irgendwann wieder sein wird wie früher. Ich wollte es so sehr, dass ich lange Zeit gebraucht habe, um in die Akzeptanz zu gehen, wie ich heute weiss, die einzige Möglichkeit, die einen wirklich weiter bring.
Ich kämpfte – gegen die Angst, gegen die Veränderung, gegen das Gefühl, anders zu sein. Und dieses Kämpfen machte mich so müde.
Die Scham, krank zu sein
Über dieses Thema spricht wohl kaum jemand, aber ich finde dieses Thema sehr wichtig. Ich konnte all die Jahre schwer akzeptieren, krank zu sein.
Nicht nur körperlich – sondern auch seelisch verletzlich.
Das einfach vor mir selbst zuzugeben, war oft unmöglich.
Ich habe es ignoriert, heruntergespielt, nicht wahrhaben wollen.
Es war mir peinlich, nicht so zu funktionieren, wie es in unserer Gesellschaft erwartet wird.
Ich wollte stark wirken.
Ich wollte „normal“ sein.
Ich wollte, dass niemand merkt, wie sehr ich innerlich kämpfe.
Dunkle Zeiten und verlorene Nähe
Es gab dunkle Zeiten, von denen ich niemandem erzählt habe.
Zeiten, in denen ich meinen Körper dafür gehasst habe, dass er mir das antut.
In denen ich nachts geweint und am Tag gelächelt habe.
Ich habe Freunde verloren, die ich so dringend gebraucht hätte – nicht, weil sie böse waren, sondern weil sie nicht wussten, wie sie mit meiner Erkrankung umgehen sollten.
Ich wusste es selbst ja auch nicht.
Ich habe Jahre voller Komplexe und fehlender Selbstliebe hinter mir.
Jahre, in denen ich mich nicht gut behandelt habe – in Gedanken, in Worten, in dem, was ich mir selbst zugemutet habe. Ich hatte mich – und die Nähe zu mir selbst verloren.
Heute
Heute bin ich 48 – und sie ist wieder da.
Die Angst.
Nicht mehr so laut, aber auch nicht stumm.
Sie erinnert mich an früher, die Operationen, die Schmerzen das Hoffen und Bangen, ob die Netzhaut diesmal hält.
Auf beiden Augen gibt es nach so langer Zeit wieder Netzhautstellen, die nicht in Ordnung sind, und ich kann nur abwarten und hoffen.
So geht mein Weg weiter, ich weiß nur noch nicht, wohin. Aber so ist das wohl im Leben.
Aber ich weiß: Ich schreibe diesen Text nicht nur für andere. Ich schreibe ihn auch für mich, um das Alles zu Verarbeiten.
Wenn du magst, lesen wir uns im nächsten Beitrag.
Dann erzähle ich dir von einer schlaflosen Nacht, in der ich beschlossen habe: Es reicht.
Und von einem kleinen Versprechen an mich selbst, das alles verändert hat.
Danke für den tiefen Einblick in Deine Seelenwelt. Ich bin sehr stolz, Deine Freundin zu sein. Du bist eine tolle Frau und Du schenkst mit Deinen Worten soooooo vielen Menschen Mut!
Danke für deine Offenheit, wie du deine Ängst durch- und erlebst und damit versuchst umzugehen.
Wir alle haben unsere Ängste und du zeigst uns, dass wir damit nicht alleine sind.
Es gehört viel Mut dazu, sich hier so zu öffnen… vielen Dank dafür!
Ich bin sehr beeindruckt von deinen Berichten und finde mich in sehr vielen Erzählungen wieder.
Die Angst ist leider ein ständiger Begleiter und auch ich weiß oft nicht wie ich damit umgehen kann.
Danke für deine Offenheit, ich fühle mich weniger allein